Die Geschichte hinter unserer Kirmes
Wir schreiben das Jahr 2024. Zwischen den Stadtteilen Mitte, Vorderer Westen, Zwehren und der Südstadt liegt der Stadtteil Wehlheiden. Der Stadtteil wird von der Drusel durchflossen und ist Heimat eines der ältesten Wochenmärkte der Stadt sowie der großen Justizvollzugsanstalt. Inzwischen ist Wehlheiden der zweitbevölkerungsreichste Stadtteil Kassels. Doch das war nicht immer so.
Die Anfänge
Heute würde man sagen, Wehlheiden war einst ein Kuhdorf. Erstmals urkundlich erwähnt wurde Wehlheiden 1143 als „superior villa Weleda“ (Oberwehlheiden) und 1219 als „inferior Weleda“ (Niederwehlheiden). Jahrhunderte lang war das Dorfleben von der Landwirtschaft geprägt. Im alten Ortskern gab es Höfe, und die Ländereien grenzten an die immer größer werdende Stadt Kassel. Mit der fortschreitenden Industrialisierung transportierten Wehlheider Fuhrunternehmer auch Braunkohle aus dem Habichtswald nach Kassel. Um 1890 ließ Sigmund Aschrott nördlich der Wilhelmshöher Allee das Hohenzollernviertel errichten, auf ehemals Wehlheider Besitz. Den dörflichen Charakter hatte Wehlheiden damals bereits verloren. Viele Bauern arbeiteten inzwischen auf den umliegenden Baustellen. Rund um den Kirchweg lagen zahlreiche Mietshäuser, und Wehlheiden war mit fast 10.000 Einwohnern die größte Landgemeinde Nordhessens. Durch den Verkauf ihres Landes und die Arbeit in der Baubranche erlangten manche Wehlheider Bauern kleinen Wohlstand, den sie teilweise in Immobilien in Wehlheiden investierten. Das rasante Bevölkerungswachstum führte zu Problemen bei der Kanalisation und Wasserversorgung, die Wehlheiden nicht mehr selbst lösen konnte. Da Kassel zur Großstadt aufsteigen wollte, war man einem Zusammenschluss nicht abgeneigt.
Am 1. April 1899 trat der „Vertrag betreffend die Vereinigung der Landgemeinde Wehlheiden und der Residenzstadt Cassel zu einer Stadtgemeinde“ in Kraft. Es handelte sich nicht, wie viele Kasseler behaupten, um eine Eingemeindung, sondern um eine Vereinigung, die Wehlheiden viele Vorteile brachte. Die Wehlheider Bürger hatten nun Zugang zum Kasseler Gemeinwohl, die Steuern auf Bier und Branntwein waren im Vergleich zum Landkreis deutlich niedriger (was auch die Ansiedlung der Hessischen Aktienbrauerei erklärt), und die Stadt Cassel verpflichtete sich, in die Wehlheider Infrastruktur zu investieren. Bereits im März feierten die Wehlheider Vereine ein großes Fest zur Vereinigung. Der neugewonnen Wohlstand der Wehlheider zeigte sich im Verlauf der Jahre in der Kneipendichte im Stadtteil. Bis zur Jahrtausendwende verfügte Wehlheiden über eine größere Kneipendichte als die Düsseldorfer Altstadt.
Eine Kirmes und der Sportverein
1868 wurde in Strack’s Bierstuben, mitten im alten Wehlheider Ortskern, die Turngemeinde Wehlheiden 1868 gegründet. Damit war sie der erste Turnverein des Landkreises Kassel. Geturnt wurde damals auf dem „Schwinneködelplatz“ der Witwe Zindel, dem heutigen Georg-Stock-Platz. Nach der Machtergreifung der Nazis und der Gleichschaltung verschwanden zunächst die alten Wehlheider Vereine. Erst am 30. Juli 1949 wurde im Wehlheider Hof die Turngemeinde Wehlheiden neugegründet. Bereits 1888 wurde in Wehlheiden gefeiert. Nicht mehr belegbar ist, ob diese Feier zu Ehren der Gründung der Wehlheider Kirchengemeinde stattfand. Bis dato hatte Wehlheiden keine eigene Gemeinde, und eine Kirche wurde erst 1889 erbaut. Sigmund Aschrott schenkte den Wehlheider Bürgern das Grundstück zum Bau der Kirche. Bis 1912 feierte man das Kirchweihfest in Wehlheiden. Nach den Wirren der beiden Weltkriege ist die Geschichte der Kirmes ab 1949 mit der Neugründung der TG Wehlheiden dokumentiert. Vielleicht schließt sich hier der Kreis zur gefeierten Gründung: Wie bei der Gründung der Kirchengemeinde, wurde auch
nach der Gründung der TG Wehlheiden eine Kirmes gefeiert. Seitdem wird diese durch den Sportverein und seine Mitglieder organisiert. Die erste Kirmes auf dem Georg-Stock-Platz fand 1966 statt, und noch heute ist dieser Platz das Zentrum der Wehlheider Kirmes. Viele Traditionen haben sich bis heute erhalten: Kirmesburschen und – mädchen (seit 1979 dürfen auch Mädchen den Kittel tragen), Dorfpolizist, das Bürgermeister-Paar, das jedes Jahr symbolisch die Regierungsgeschäfte übernimmt, und eben die Wagenrunge.
Warum Wehlheider Wagenrungen sind
Bereits im 16. Jahrhundert transportierten Wehlheider Fuhrunternehmer Braunkohle aus dem Habichtswald. Dabei kamen zweispännige und vierspännige Pferdefuhrwerke zum Einsatz, die über Wagenrungen, gewölbte, bis zu 160 cm lange Holzstangen, verfügten. Diese wurden auf die Achsen gesteckt und hielten die Seitenbretter der Fuhrwerke. Während einer Himmelfahrtsfeier soll ein Spaziergänger am Schönfelder Weg mit einer Wagenrunge so schwer auf den Kopf geschlagen worden sein, dass er verstarb. Der königlich-preußische Landrat erließ daraufhin die Order, dass Wagenrungen während der Feiern im Dorf gepolstert sein müssen. Bis heute trägt der Kirmesvater die Wagenrunge während der Kirmes (völlig gewaltfrei und ungepolstert) durch das Dorf. Und weil die Wehlheider Bürger schon immer etwas schroffer waren, hat sich der Wahlspruch der Wehlheider bis heute erhalten. Schon die Kleinsten wissen:
„Wehlheider Jungen, viel besungen, sind und bleiben Wagenrungen!“
Fotos: wikimedia commons / gemeinfrei, www.vorderer-westen.net, Stadtmuseum Kassel
Geschichtsinteressierte finden weitere spannende Artikel über die Wehlheider Kirmes, Wehlheiden und die TGW in der Festschrift zum Festkommerz der 150 Jahrfeier von 2018.